Seit Red Dead Redemption 2 angekündigt wurde, versinkt gefühlt die ganze Gamingwelt in Ekstase. Was blieb vom größten Hypetrain des Jahres? Von Clemens Istel
Der peitschende Schneesturm rauscht durch den dichten Nadelwald. Eine dicke Schneeschicht schluckt jedes Hufeklappern unserer Pferde. Von den kleinen Hügeln, die mein treuer Gaul mit jedem Schritt neben seinen Beinen aufhäuft, rieseln Krümel zurück auf die große weiße Decke, die über dem Land liegt. Als wir die Baumgrenze passieren, blicken wir auf schneebedeckte Gipfel, von deren Spitzen der Wind in großen Böen Schnee herunter weht. Die weißen Kristalle glitzern im Sonnenschein. Die Luft ist glasklar.
Red Dead Redemption 2 ist ohne jeden Zweifel der größte Game of the Year-Kandidat 2018. Und das in einem Jahr, in dem die Presse auch God of War und Marvel’s Spider-Man mit hohen, wenn auch nichtssagenden, Zahlenwertungen überhäufte. Rockstar Games reiht sich mit seinem Westernepos nahtlos in diese Riege ein – sowohl was den überzogenen Hype aber auch die letztlich sehr hohe Qualität der Spiele angeht.
Wie toll Red Dead Redemption 2 wirklich ist, war einigen Medien und noch viel mehr den Gamern bereits viele Monate vor Release “bewusst”. Zu einem im Mai veröffentlichten Trailer titelte ein Medium auf Facebook etwa:
Das ist das beste Open World Spiel aller Zeiten.
Der Post ist mittlerweile leider nicht mehr zu finden, steht aber dennoch stellvertretend für die weltweit gigantischen Erwartungen an Rockstars Spiel. GamePro vermutete etwa kurz vor Release wie viele andere eine wahre Revolution im Gaming. Insgesamt war Red Dead Redemption 2 nun acht Jahre in Entwicklung, nachdem der ursprüngliche Release vor einem Jahr noch einmal verschoben wurde.
Grafisch fährt Red Dead Redemption 2 mächtige Geschütze auf
Wird Red Dead Redemption 2 dem Hype gerecht?
Wer darauf eine einfache Antwort erwartet, glaubt womöglich auch noch an die Sinnhaftigkeit von Prozent- und Sternchenwertungen. Red Dead Redemption 2 ist nicht zuletzt aufgrund seines Umfangs unmöglich kurz zu beschreiben. Zu viele Features erwarten die Spieler, zu groß und lebendig ist die Welt.
Im Prolog lässt die Grafik bereits ordentlich die Muskeln spielen. Die verschneite Landschaft wirkt so echt, dass wir ganz zwangsläufig immer wieder innehalten, um einfach den Ausblick auf die Weite oder einzelne Details, wie den rieselnden Schnee neben unseren Spuren, zu bewundern. Es wird bei weitem nicht der einzige Spielabschnitt bleiben, in dem wir das Spiel mit offenem Mund wegen seiner Schönheit unterbrechen.
Das allein wäre jedoch ausschließlich die beste Werbung für einen Fotomodus, den das Spiel selbstverständlich in seiner eigenen Form beinhaltet. Wer unter all dem Hype auf eine Stimme der Vernunft hofft, die nun unzählige Mängel auflistet, wird größtenteils enttäuscht werden. Gänzlich ohne Fehler ist Red Dead Redemption 2 aber längst nicht.
Steuerung, Kamera, KI und lange Animationen bräuchten Feintuning.
Story ist nicht alles
Was Rockstar Games mit der überwältigend schönen Spielwelt anstellt, ist tatsächlich ganz großes Kino. Auf die Spielerinnen und Spieler wartet eine exzessiv detaillierte Spielerfahrung. Diese entsteht aus dem gekonnten Zusammenspiel von einer regelrechten Armada von Features.
Für die zweieinhalb Menschen, die aktuell nicht Red Dead Redemption 2 spielen, soll der Ausgangsplot noch einmal kurz zusammengefasst werden. Wir spielen Arthur Morgan, Revolverheld und Teil der Van der Linde-Bande. Die Welt ist 1899 im Wandel und für Outlaws, wie unsere Gang, ist eigentlich kein Platz mehr darin. Ständig auf der Flucht vor anderen Banden und dem Gesetz ist unser Anführer Dutch van der Linde auf einen letzten großen Coup aus, damit sich alle zur Ruhe setzen können.
Üblicherweise stellt die Hauptstory das Rückgrat eines Spiels dar. Nach rund 30 Spielstunden haben wir die in unserem bisherigen Durchlauf aber gerade einmal zu 24 Prozent absolviert – das gesamte Spiel etwa zu einem Drittel. Wer nach Milchmädchenrechnung nun aufschreit, die Main Story wäre damit doch der Hauptteil, der sei auf die Liste an Nebenbeschäftigungen hingewiesen.
Von Ku-Klux-Klan bis Serienmörder: Manche Nebenschauplätze in Red Dead Redemption 2 sind zum Gruseln
Was wir in der Story erleben, stellt immer nur die Basis für allerhand andere Tätigkeiten im Spiel dar. Auch wenn Dialoge und Storytelling äußerst gelungen sind, ging es Rockstar Games ganz offensichtlich darum, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern uns eine ganze Welt erleben zu lassen. Da wären zum Beispiel zufällige Begegnungen mit NPCs, die überall in der Welt stattfinden können. Zumeist sind diese auf irgendeine Art mit den Geschehnissen der Hauptgeschichte verbunden. Beispielsweise lauern uns befeindete Banden in Hinterhalten auf.
An anderer Stelle treffen wir auf Fremde, die uns ihren Beruf oder ein bestimmtes Hobby näher bringen. Darunter sind Fotografen, Kartensammler, Schatzsucher, Jäger, eine Lady, die Dinosaurierknochen ausgräbt und noch etliche andere Figuren. Eines ruhigen Nachmittags pflückt uns ein Pferdedieb vom Ross und prescht mit unserem Gaul von dannen. Glücklicherweise haben wir in unserer Winchester ein paar Freunde, die schneller laufen können als er.
Abgesehen von kürzeren Begegnungen wie dieser, stecken hinter vielen anderen weitere Features. Die genannten Hobbys führen allesamt zu Nebenaufgaben und weiteren Begegnungen, die uns über die gesamte Karte von Red Dead Redemption 2 führen. Ein Blick in das Kompendium, in dem alle Informationen und Aufgaben gesammelt werden, offenbart, dass wir zig Stunden voll und ganz in die Welt eintauchen können, ohne auch nur eine Sekunde Storyfortschritt zu spielen.
Red Dead Redemption 2 is Camplife
Eigentlich keine Nebenbeschäftigung, sondern elementares Gameplay, ist die Jagd. Als Basis für alle Unternehmungen dient das Camp der Bande. Darin alleine warten die unterschiedlichsten Nebenbeschäftigungen wie Poker, Domino oder Kurzmissionen. Grundsätzlich müssen wir das Camp aber auch mit wichtigen Gütern wie Medizin, Munition und Essen versorgen.
Alle Dinge können wir auf unterschiedliche Weise besorgen. Entweder jagen oder fischen wir für die kulinarische Versorgung oder wir kaufen die benötigten Ressourcen über General Stores oder direkt über das Logbuch des Camps. Darin können zudem einzelne Teile des Camps aufgebessert werden. Erst dadurch erhalten wir eine Schnellreisemöglichkeit oder die Option, beim Fleischer bessere Ausrüstung zu craften.
Craftingmaterialen und Finanzen beziehen wir teils aus Missionen, teils aus der Jagd. Perfekte Pelze von Wildtieren werden zu Upgrades verarbeitet. Ihr Fleisch landet im nächsten Eintopf. Mangelhafte Teile von Tieren leisten immerhin noch einen finanziellen Beitrag für das Camp.
Detailtiefe auf höchstem Niveau
Nichts in Red Dead Redemption 2 ist simpel. Viele Aspekte können wir auf die unterschiedlichsten Wege in Angriff nehmen und müssen dabei gleich noch mehrere Dinge beachten. Die Jagd ist beispielsweise beinahe ein eigenes Spiel. Wer erfolgreich sein will, muss zunächst die Spuren der Tiere finden und verfolgen. Dazu bedarf es der korrekten Ausrüstung, um den Pelz nicht zu beschädigen.
Nur wer mit einem gezielten Schuss den Kopf des Tieres trifft, hat auch wirklich die Chance auf perfekte Materialien. Damit immer noch nicht genug: Wir müssen sie auch rechtzeitig abliefern. Sonst verdirbt unsere Beute und verliert ihren Wert und Nutzen für Käufer oder Camp. Außerdem ist unser Pferd wenig begeistert, wenn es über längere Zeit einen stinkenden, vergammelten Truthahn durch die Prärie schleppen muss.
Unser treuer Gaul verlangt mindestens nach so viel Zuneigung wie die Jagd. Wir müssen ihn füttern, reinigen und streicheln, um eine Beziehung zu ihm aufzubauen und ihn leistungsfähig zu halten. Dadurch schalten wir bestimmte Manöver mit ihm frei und können ihn aus größerer Distanz zu uns rufen. Beinahe unnötig zu erwähnen, dass wir Schweif, Mähne und Sattel nach Herzenslust umstylen können.
Arthur wirkt beinhart, bereut aber regelmäßig seine schlimmen Taten.
Wo Rockstar Games die Detailverliebtheit aber noch einmal auf die Spitze treibt, ist bei der Art, wie unser Pferd auf die Umwelt reagiert – damit sind nicht die vielzitierten Pferdehoden gemeint, die in der Kälte schrumpfen sollen. Unser stolzes Ross scheut zum Beispiel, wenn in seiner Nähe geschossen wird oder ihm eine Schlange aus dem nächsten Wüstenstrauch entgegen zischt. In einer handfesten Auseinandersetzung sucht es zudem erstmal das Weite. Per Knopfdruck können wir es dann beruhigen und so unsere Beziehung weiter stärken.
Ebenso wie Pferdchen schadet auch der Hauptfigur Arthur die regelmäßige Körperpflege nicht. NPCs quittieren unser Äußeres mit unterschiedlichen Reaktionen. Das inkludiert Kleidung, Bartwuchs, Frisur, Geruch und selbst das Tuch, mit dem wir unser Gesicht bei Raubzügen verhüllen. Im Hintergrund arbeitet zudem ein Ehrensystem, das all unsere Taten bewertet. Diese Faktoren beeinflussen, wie die Welt mit uns interagiert, welche Boni wir etwa von Geschäften erhalten, ob man uns in gewisse Räumlichkeiten lässt oder überhaupt mit uns kommuniziert.
Damit verbundene Mankos
Die unglaubliche Detailtiefe bringt aber auch Negatives mit sich. Zum einen entschied sich Rockstar dafür, Red Dead Redemption 2 grundsätzlich langsam zu machen. Bei Standardkonfiguration der Tasten laufen wir nur bei exzessivem Buttonmashing. Das führt dazu, dass wir uns gerade in Innenräumen sehr langsam fortbewegen, weil sich wirkliches Laufen doch nicht auszahlt. Innerhalb unseres Camps können wir außerdem gar nicht laufen. Die Bewegungssteuerung ist wie von Rockstar-Spielen gewohnt schwammig.
Außerdem ist mir nach wie vor nicht klar, bei welcher Kameraperspektive ich den linken Stick in welche Richtung bewegen muss, um mich in eine bestimmte Richtung zu drehen. Gepaart mit der stellenweise strunzdoofen KI führt das zu frustrierenden Momenten. Als mich ein zufällig getroffener Herr am Wegesrand darum bittet, ihn zurück in die Stadt zu begleiten, geht dieser auf Tuchfühlung mit meinem Pferd. Auch wenn ich den Analogstick nur angesehen habe, interpretiert er die folgende minimale Drehung meines Pferdes als Football-gleiches Tackling, sprintet panisch davon und die zufällige Begegnung endet vorzeitig.
Mein erstes Pferd starb zudem durch KI-Suizid. Vielleicht roch der heranrollende Zug aber auch zu verführerisch nach frischem Hafer, sodass es ohne mein Zutun einfach in ihn hinein laufen musste. Zurecht wird auch bereits vielerorts kritisiert, dass unser Pferd nicht unbedingt in Echtzeit auf unseren Pfiff reagieren muss. Sämtliche Interaktionen wie etwa Looten sind vollständig durchanimiert. Wer das schon nicht erwarten kann, wird erst recht seine “Freude” daran haben, wenn das Hottehü mitten im nirgendwo mit der Eisenbahn kuschelt.
Solange sie nicht euer Pferd über den Haufen fahren, sind Züge eure Freunde. In ihnen wartet das große Geld.
Fazit
Ist das Westernepos von Rockstar Games nun trotz aller Mankos und der teils fürchterlichen Arbeitsbedingungen ein Pflichtkauf? Wir sagen ja. Zum einen, weil Entwickler nicht auch noch auf ihre Bonuszahlungen verzichten müssen sollten. Zum anderen, weil sie mit ihrem Herzblut ein Spiel geschaffen haben, das es in dieser Form noch nicht gibt.
Grafisch ist Red Dead Redemption 2 ein wahrer Leckerbissen. Die offensichtlichen Schwächen bei KI und Steuerung verzeiht man ihm relativ leicht. Besonders gelungen ist die unfassbar große Welt, die so leer wirkt und gleichzeitig so voller Abenteuer steckt. An einer Stelle folgten wir einem Kanufahrer über zwei Minuten, in der Hoffnung auf eine Nebenaufgabe, weil uns das Spiel an so vielen Stellen davor beigebracht hat, dass diese an jeder Ecke lauern können.
Alle Erlebnisse, Aufgaben und Personen fügen sich zu einem nahtlosen Ganzen zusammen, in das wir stundenlang versinken wollen. Das bedeutet aber unweigerlich auch, dass dieses Spiel viel Zeit beansprucht. Wer lediglich hier und da ein Stündchen oder weniger investiert, wird vermutlich nicht die volle Wirkung dieser Welt erleben.
War all der Hype also gerechtfertigt? Vermutlich nicht. Red Dead Redemption 2 ist am Ende des Tages nur ein Spiel. Allerdings eines, dass viele Auszeichnungen erhalten wird und uns ein ums andere Mal die Realität vergessen lässt.
Bilder © Rockstar Games
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