Wohin führt das riesige Potenzial von Spielen als Lernwerkzeug? Der Erfolg der Computerspielbranche hat dabei Einfluss auf die Debatte um Game Based Learning. Von Thomas Kunze.
Computerspiele sind mehr als nur Unterhaltung. Sie sind mehr als Zeitvertreib, mehr als nur ein erfolgreiches Produkt. Sie sind prägend für die gesamte Unterhaltungsindustrie und sie könnten auch bald zum wichtigen Faktor für den Bildungsmarkt werden.
Die Branche eilt auf jeden Fall unbeirrt von einem Umsatzrekord zum nächsten. Sie spricht immer breitere Zielgruppen an und prägt zudem andere Sektoren der digitalen Revolution und gestaltet sie mit. Virtual Reality, Blockchain und Künstliche Intelligenz wurden in den letzten Jahren nachhaltig von der Spieleindustrie getrieben und gestaltet.
Es entstand ein starker Mobile-Sektor und digitale Spiele werden zu Sportarten, die in ihrem Publikumsinteresse sogar die erfolgreichsten ‘herkömmlichen’ Sportveranstaltungen in den Schatten stellen und so unsere Populärkultur prägen. Wie also kann so etwas gelingen?
Eine einfache Antwort darauf lautet, Spiele machen Spaß und haben besondere Bedeutung für uns, weil sie interaktiv sind. Deswegen lieben wir Spiele und kaufen sie fleißig und umfangreich. Spiele bieten aber auch bedeutungsvolle, ungewöhnliche Erfahrungen, sie sind Kulturgut und sie simulieren Prozesse aus dem realen Leben. Sie sind sozial und kreieren Identitäten.
Die Communities rund um Spiele, Genres oder Spielarten (Esports oder Speedrunning) werden zu Gemeinschaften, zu einem sozialen Ort, der wichtige Funktionen übernimmt über das Spiel hinaus. Hier entstehen Freundschaften, Kooperationen, manchmal Liebes-, manchmal Geschäftsbeziehungen. Daher rührt die Liebe und Leidenschaft zu Spielen.
So weit, so positiv. Spielehersteller verwenden jedoch auch Mechanismen und psychologische Tricks, die seit einer Weile aufgrund ihrer Verwerflichkeit Schlagzeilen machen. Free-to-play Spiele mit In-App-Käufen, Lootboxen und Premium Content sind ebenfalls starke Motivatoren, Geld auszugeben für Spiele. Und wenn vom Erfolg der Spieleindustrie gesprochen wird, immer neue Umsatzrekorde vermeldet werden, ist dies eben auch begründet in diesen Geschäftspraktiken, um das Maximum aus dem potenziellen Konsumentenkreis herauszupressen.
Ein zweischneidiges Schwert also, dieser scheinbar unaufhaltbare Siegeszug der Branche. Dennoch greift es zu kurz, sich auf einen dieser beiden Aspekte zu beschränken und von diesem Standpunkt aus zu argumentieren, denn gewinnorientierte Unternehmen zu ethisch-moralisch einwandfreien Geschäftspraktiken anzuhalten, funktioniert in keiner Branche.
Aber dennoch kennen wir alle auch die Erfolgsgeschichten, die traumhaft erscheinen. Kleine Studios und einzelne Entwickler, die jahrelang an ihrem Herzensprojekt arbeiten und dann tatsächlich damit Erfolg haben. Studios, die die Liebe der Fans zu ihren Spielen wirklich zu schätzen wissen und dementsprechend handeln. Nicht alleine, weil es um Profit geht, sondern weil sie scheinbar diese Leidenschaft teilen.
Es scheint dies eine Welt zu sein, die ihre Liebe zum Medium, ihre Seele, nicht verloren hat. Und wahrscheinlich findet man auch alles dazwischen in dieser globalen Unterhaltungskulturbetriebsindustrie. Deswegen sollte man vielleicht auf beiden Seiten etwas weniger naiv und einseitig denken und argumentieren.
Spiele sind das großartigste Lernmedium des 21. Jahrhunderts?
“Digital-Game-based-Learning is motivating, because it is fun.”
Marc Prensky, 2001
Eine ähnlich schlichte, übersimplifizierende Haltung zu Spielen lässt sich auch rund um das Lernen mit Spielen beobachten. Dieses Zitat von Marc Prensky, der im gleichnamigen Buch im Jahr 2001 den Begriff Digital Game Based Learning geprägt hat, dient immer noch häufig als Argumentationshilfe für Befürworter eines Einsatzes von Spielen im Lernsetting.
Wenn es darum geht, sich dafür auszusprechen, dass Computerspiele eine (wesentliche) Rolle im Schulalltag spielen sollen, bekommt man solche oder ähnliche Aussagen zu hören. Erst kürzlich erschien im Ten-Magazin ein guter Text zur Thematik Gaming in der Schule und der Frage, wie das gelingen könne.
Der Autor Jakob von Lindern zeigt differenziert, welche Möglichkeiten existieren und wie die Arbeit mit Spielen in der Schule gestaltet werden kann anhand von Experten, die bereits erfolgreich in diesem Bereich arbeiten. Und da nennt er eben auch Prensky, das angeführte Zitat und die unvermeidliche Motivation durch Spiele.
Es geht dabei um die intrinsische, also aus dem Individuum selbst entstehende Motivation, die sich ein bisschen anfühlt wie der heilige Gral für diesen Bereich der Lernpsychologie und ihre Anwendung im Bildungsbereich. Die Prämisse lautet, wer spielt, ist automatisch motiviert.
Nicht, dass diese Aussage kategorisch falsch wäre. Spiele und spielerische Auseinandersetzungen können uns nachhaltig motivieren und ermöglichen uns eine unvergleichliche Hingabe und Ausdauer rund um unser aktuelles Lieblingsspiel.
Aber nicht immer und jeden und sowieso. Lindern zitiert Studien, die den Erfolg von Digital Game Based Learning (DGBL) belegen. Er zeigt Beispiele, wie dies umgesetzt werden kann, von konkreten Projekten in Schulen und Universitäten bis zur Entwicklung der Discovery Tour, die Ubisoft aus der Assassin’s Creed-Reihe entwickelt hat und die als interaktiver Geschichtsunterricht angepriesen wird.
Zudem zeigt er ein Beispiel (Classcraft) aus der Gamification, einem verwandten Fachbereich zu DGBL, der aber anstatt vollständiger Spiele nur einzelne Spielelemente verwendet, um diese auf andere Prozesse anzuwenden. Wir sprechen hier von Ranglisten, Abzeichen, Achievements und Ähnlichem.
Gamification ist an sich weitaus problematischer als Digital Game Based Learning. Häufig handelt es sich hier eher um eine Skinner-Box oder um eine Chocolate-covered broccoli-Situation, denn der Arbeitsprozess bleibt der Gleiche. Nur die Bezeichnungen verändern sich, damit es sich eben etwas spielerischer anfühlt und frischer, zeitgemäßer klingt.
Der problematische Optimismus der Befürworter
Ähnlich wie bei der Einschätzung des Erfolgs der Spielebranche, wird den Befürwortern häufig eine gewisse Naivität vorgeworfen. Ein uneingeschränkter Optimismus ist eher hinderlich, wenn es darum geht, das offensichtlich vorhandene Potenzial des Lernens mit Computerspielen zu nutzen.
In einer Replik auf den Text von Lindern hat Felix Zimmermann auf dem gespielt-Blog des Arbeitskreises Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele dementsprechend einige der grundlegenden, übertrieben optimistisch anmutenden Äußerungen in Linderns Text aus der Game Based Learning-Ecke in Frage gestellt.
Im Einzelnen kritisiert er zum Beispiel die Annahme, Spiele seien automatisch intrinsisch motivierend und führt Motivationsmechanismen an, die heute gang und gäbe sind, wie Lootboxen und Grind-Mechaniken, gekoppelt mit verschiedenen Währungen und Premium-Content.
Dabei geht es nicht um echte Motivation, wie oben bereits erwähnt. Stattdessen bewegt man sich schon im Bereich von Glücksspiel. Außerdem sieht er Gamification als Element des Schulunterrichts zu Recht äußerst kritisch.
Vergleichbare Mechanismen kommen zum Beispiel bei Kundenbonussystemen oder Social Credit Systems zum Einsatz, wie sie vor kurzem in China etabliert wurden. So etwas in Schulen zu bringen und dann noch von erhöhter Motivation seitens der Lernerinnen zu sprechen, muss mindestens als fahrlässig bezeichnet werden.
Also quo vadis, Digital Game Based Learning?
Wo liegen denn nun die tatsächlichen Vorzüge von Digital Game Based Learning? Spiele können einiges leisten, das sich im regulären Unterricht nur schwierig erreichen lässt. Zuerst sind sie das Medium der Wahl in der Zielgruppe der SchülerInnen, Linderns Artikel betont dies auch. Mehr als 60 Prozent der deutschen Jugendlichen spielen täglich und haben somit eine hohe Relevanz.
Spiele können komplexe Systeme simulieren und uns in fremde Leben schlüpfen lassen und sind dabei interaktiv. Das bedeutet, die eigene Entscheidung spielt eine Rolle und das Spiel lässt uns komplexe Systeme oder fremde Biografien besser verstehen als andere mediale Vermittlungsformen.
Computerspiele haben die Qualitäten, die oben bereits genannt wurden, sie sind sozial, interaktiv, identitätsstiftend. Im Gegensatz zu sonst häufig üblichen standardisierten Lehr- und Lernmitteln, passen sich (viele) Spiele an ihre NutzerInnen an. Sie bieten dank ausgewogener Progression eine angemessen steigende Lernkurve und haben oft die Tiefe, um auch diejenigen zu fordern, die in herkömmlichen Lernszenarien unterfordert wären.
Spiele bringen uns aufgrund dieser Anforderungen häufig dazu, uns über das Spiel selbst hinaus zu einem Thema zu informieren. Sei es, um im Spiel besser zu werden oder einfach nur aus erwecktem Interesse an einer Thematik. Spiele laden uns – im Gegensatz zu vielen anderen Lernmedien – dazu ein, selbst zu ProduzentInnen zu werden und aktiv an Diskursen teilzunehmen, Texte zu produzieren und zu kommentieren.
Und schließlich sind Spiele vor allem eins. Sie sind spielerisch. Das bedeutet, in einem klar definierten Rahmen frei ausprobieren zu können, selbst gestalterisch tätig zu sein, aber auch einfach sich zu amüsieren. Eine lustvolle Auseinandersetzung mit einer Thematik und ein sozialer Anlass, um sich selbst zu definieren und Menschen mit gemeinsamen Interessen zu finden. Davon könnten Schulen und Universitäten sicher profitieren.
Spiele können sogar noch mehr. Im Gegensatz zu herkömmlichen Lernmedien und -methoden lassen sich im Spiel hervorragend Soft Skills trainieren. Sie können uns aufzeigen, wie wir mit Frustration umgehen, ob wir Durchhaltevermögen zeigen oder uns schnell auf neue Situationen einstellen können. Sie trainieren die Wahrnehmung und die Koordination, schärfen den Geist und lassen uns viel über unser Gegenüber lernen, sowohl kooperativ als auch kompetitiv.
Deswegen sind Spiele wertvoll für Lernen, Training und Kommunikation (und Marketing, Politik, you name it). Deswegen sollten sie andere Medien und Methoden verdrängen und verändern. Oder um nicht allzu optimistisch und naiv zu sein, wenigstens ergänzen dürfen.
Schon als Kind hatte Clemens lieber den MegaDrive Controller als das Fläschchen in der Hand. Rund ein Vierteljahrhundert macht er bereits virtuelle Welten unsicher. Ob RPG oder FPS, kaum ein Genre ist vor ihm sicher. Selbst im ESport hat der "Head of Head off" von Screaming Pixel seine Erfahrungen gesammelt. Grundsätzlich gilt für ihn: Je openworlder, desto zock!