Wie gefährlich sind Boulevardmedien?

RTL lernt es nimmermehr. Erneut beweist der Medienkonzern, dass er Quote über Qualität stellt.

Spätestens seit dem berüchtigten Gamescom Report aus 2011 stehen wir Gamer mit RTL auf Kriegsfuß. Während manche unserer Kollegen die Angelegenheit noch mit Galgenhumor erwidern konnten, blieb vielen ein bitterer Nachgeschmack im Mund.

Man möchte meinen, Videospiele seien langsam in der Mitte der Gesellschaft angekommen. E-Sports-Turniere sind mit Millionenbeträgen dotiert. Stars und etablierte Sportvereine (zB. Schalke 04) steigen in das Geschäft ein. Die Anerkennung als Sport wird mehr und mehr Realität. Pro Sieben Maxx überträgt E-Sport bereits im deutschen Fernsehen.

Doch ein Klischee hält sich so stur wie Kaugummi am Schuh: Spiele sollen Killer sein. All die Studien, die der Killerspieldebatte in der Vergangenheit die Luft aus den Segeln nahmen, sind vergessen, wenn sich mit Pauschalisierungen Schlagzeilen machen lassen.

Schon wieder RTL

Der neueste Fall in dieser Historie stammt erneut von RTL. Ein neunjähriger Junge nimmt sich das Leben, weil Freunde ihn beim Computerspielen ausgeschlossen haben. Übrigens möchten wir an dieser Stelle allen Angehörigen unser tiefstes Mitgefühl aussprechen.

Eine furchtbare Tragödie, die mit dem Spielinhalt per se aber nichts zu tun hat. Der Bericht auf “rtlnext” erklärt sogar: “Es wird bei Minecraft nicht geballert, und es fließt auch kein Blut.” Die klassische Killerspiel-Schublade passt in diesem Fall also nicht. Dennoch feuert der Artikel in genau diese Richtung.

Gerade im Falle eines Suizids ist für Journalisten eigentlich besondere Vorsicht geboten. Der österreichische Presserat führt hierzu im Ehrenkodex einen eigenen Punkt an. Wegen dem nach Goethes Werk benannten “Werther-Effekt” – also der Gefahr einer Nachahmung – sei genau abzuwägen, ob und in welchem Umfang eine Berichterstattung stattfinden darf.

“Wie gefährlich ist das Online-Spiel?”

Schon in der Headline entfernen wir uns vom Kern der Tatsachen. “Junge (9) begeht Selbstmord wegen ‘Minecraft’”, heißt es da. Was suggeriert diese Zeile? Der Neunjährige habe sich in einem direkten kausalen Zusammenhang mit dem Spiel das Leben genommen. Die Schuld wird noch vor dem ersten erklärenden Satz dem Spiel zugeschrieben.

Bereits nach der ersten Zeile hätte auffallen müssen, dass die Headline nicht aufgeht. Dort steht dann plötzlich: “… weil Freunde ihn beim Online-Computerspiel ‘Minecraft’ nicht mitspielen ließen.” Das klingt für eine Headline aber freilich nicht reißerisch genug, dachte wohl RTL.

Problematisch am Titel des Artikels ist nicht nur sein fehlender Wahrheitsgehalt. Erschwerend kommt noch hinzu, wie wir heutzutage Nachrichten im Web konsumieren. Zumeist nehmen wir nur noch Schlagzeilen war. Die Nachrichtenflut lässt schon zeitlich immer weniger lange Formate zu.

Was passiert also, wenn wir so eine Schlagzeile sehen? Im besten Fall lesen wir den Artikel dahinter und reflektieren über die Widersprüche von Fragestellung und Faktenlage. Im schlechtesten Fall stärkt sie das Klischee vom tödlichen Videospiel, wenn wir sie zwar wahrnehmen, aber nicht anklicken.

Eine Frage überblendet die andere

Die Headline hätte ein boulevardesker Fehlgriff bleiben können, wenn der folgende Text die Umstände faktisch korrekt und ausgewogen dargelegt hätte. Stattdessen dreht er den Spin in Richtung Killerspiel konsequent weiter. Selbst kluge Anmerkungen verblassen neben einprägsamen Floskeln.

“Worauf müssen Eltern besonders achten?”, hätte eine interessante Frage sein können. Doch zuvor steht schon wieder die Schuldzuweisung: “Wie gefährlich ist Minecraft für unsere Kinder?” Soziale Ausgrenzung als kritischen Faktor in Erwägung zu ziehen, weicht sofort dem panischen Gedanken, es müsse irgendwas mit dem Spiel zu tun haben.

RTL brüstet sich infolge sogar damit, das Spiel selbst angetestet zu haben. Ergebnis: Man komme sehr leicht mit Usern in Kontakt und könne sich bei mangelnder Kommunikation deshalb auch schnell ausgeschlossen fühlen. Dass das aber auch beim Fußball oder in der Schulklasse vorkommen kann, wird ignoriert.

Schwere Geschütze

Die Argumentation gegen Minecraft erscheint dünn. Zeit für den Dampfhammer: “Ist Minecraft ein Netzwerk für Pädophile?” Wir schlagen also den Bogen von sozialer Ausgrenzung zu Sexualstraftaten. Das Spiel mit den Emotionen geht in die letzte Runde. Mit dem ursprünglichen Todesfall hat das überhaupt nichts mehr zu tun.

Diese Gefahr ist aber ebenso real wie Mobbing. RTL erwähnt einen Fall aus vergangenen Jahren, verlinkt diesen aber leider nicht. Die gemeinsame Klammer ist nur zufällig in beiden Fällen Minecraft. Es sind soziale Interaktion und Exposition, die zu Tragödien wie im Fall des neunjährigen Jungen führen und Straftätern die Tür öffnen.

Diese Abwägung kommt über die Dauer des Artikels zu kurz. Zwischenüberschriften und die einleitenden Sätze zahlen konsequent auf das Argument ein, Spiele würden uns ins Verderben treiben. Erst in den letzten Zeilen erfolgt ein sinnvoller Hinweis durch eine Psychologin, der die Eltern in die Pflicht nimmt.

Was also tun?

Computerspiele sind ein komplexes Medium. Nach und nach müssen wir lernen mit Erzählweisen, technischer Infrastruktur und Nutzerinteraktion umzugehen. Besonders Kinder brauchen dabei eine helfende Hand. So könnten Jung und Alt gemeinsam erfahren, welches Potential in Spielen steckt.
Sie erzählen Geschichten und nehmen uns dabei mit in fantastische Welten. Videospiele können auch im Positiven sozialisieren, ja sogar einen Bildungsbeitrag leisten. Viele gute Eigenschaften, die ihnen nach wie vor zu wenige zutrauen. Unwissenheit und Panikmache schaden dem Ruf des Mediums enorm.

Der RTL-Artikel zeichnet wieder einmal ein negatives Bild von Videospielen, indem er den Tod eines Kindes nutzt, um Quote zu machen. Die wirklichen Umstände gehen uns genau genommen nichts an. RTLs Darstellung davon aber sehr wohl.

Für die Zukunft bedeutet das Weiterkämpfen. Gegen Klischees und für einen besseren Umgang mit dem Spiel.

 

 

 

Autor/Autorin

Clemens Istel

Schon als Kind hatte Clemens lieber den MegaDrive Controller als das Fläschchen in der Hand. Rund ein Vierteljahrhundert macht er bereits virtuelle Welten unsicher. Ob RPG oder FPS, kaum ein Genre ist vor ihm sicher. Selbst im ESport hat der "Head of Head off" von Screaming Pixel seine Erfahrungen gesammelt. Grundsätzlich gilt für ihn: Je openworlder, desto zock!